Montag, 25. Februar 2019

Frage an das Gnu

Tags zuvor hatten wir den wunderschönen Film "Unsere Erde" geschaut und
waren fasziniert von den atemberaubenden Bildern, die Natur- und
Tierfilmer mit wohl unendlicher Geduld und Geschick für uns eingefangen
haben.
Es löst bei mir ein wohliges Gefühl der Zufriedenheit aus, einen Pilz im
Dschungel im Zeitraffer wachsen zu sehen oder zu sehen, wie Gnus in
freier Wildbahn am See stehen und gemeinsam trinken. Doch dann taucht
ein Löwe auf und stürmt fauchend in die Gnu-Herde, um sich sein Fressen
zu jagen. Und ganz klar, wie sollte es anders sein, wird er auch Erfolg
haben und ein Gnu reißen. Mit einem mehr oder minder gezielten Biss in
die Kehle beendet die Raubkatze das Leben des Gnus. Der Mensch als
mitfühlendes und empathisches Wesen fragt sich bei diesem Anblick
natürlich, wie es dem Gnu dabei geht. Die fleischfressende Katze fragt
sich das eher nicht und das ist auch gut so. Es ist der Lauf der Natur
und so soll es auch sein.


Am nächsten Morgen nach dem Frühstück beschlossen wir spontan, mit
unserem kleinen Sohnemann nach Heidelberg zu fahren und den Zoo zu
besuchen. Selbstverständlich liebt unser Samuel Tiere - wie jedes andere
Kind auch. Das Konzept, Tiere einzusperren und auszustellen, prangern
wir generell eigentlich an, jedoch kann uns der Heidelberger Zoo
einigermaßen erfolgreich das Gefühl vermitteln, es ginge den Tieren dort
den Gefangenheitsumständen entsprechend noch so gut wie möglich. Uns ist
es wichtig, unserem Sohn Tiere zu zeigen, denn wir denken, dass unser
Kleiner, der bisher wie auch wir keine Tiere isst, seine Tierliebe vor
allem dann entwickeln und festigen kann, wenn er verschiedene Tiere auch
wirklich live sieht und erlebt.
Tiger, Löwen, Elefanten, Affen, Seelöwen, Pelikane und so weiter und so
fort. Ganz viele bunte und erstaunliche Tiere dürfen wir hier sehen. Und
doch ist es etwas ganz anderes, als diese Tiere in einer Dokumentation
zu sehen. Anders weil live und nicht nur auf der zweidimensionalen
Mattscheibe. Und anders, weil die Tiere hier eingesperrt sind. Es gibt
doch so ein Sprichwort, "wie ein Tiger im Käfig auf und ab gehen" - und
genau so sieht es auch in der Zoo-Realität aus. Der Tiger wirkt
apathisch, vielleicht klingt es übertrieben, wenn ich sage, sogar
psychisch gestört. Aber so wirkt es auf mich. Dieses mächtige und
energiegeladene Tier weiß nicht wohin mit sich selbst und fristet ein
trauriges Leben eingesperrt von Menschen, die ihn ausstellen, damit wir
Zoobesucher ihn anglotzen können.

Und hier bei diesem Zoobesuch und angesichts der Tierdokumentation im
Fernsehen am Vorabend kam sie auf, meine Frage: Wie würde sich das Gnu
entscheiden, wenn es die Wahl hätte? Es ist doch wie so oft im Leben:
Freiheit steht im Konter zur Sicherheit. Maximale Sicherheit bedeutet
maximale Unfreiheit. Was also würde das Gnu machen, wenn man ihm sagen
könnte:
Liebes Gnu, willst du in der Savanne leben, in naturbelassener Wildbahn
- vielleicht sogar ohne Kameramenschen, die Tierdokus drehen - und die
volle Freiheit des Lebens genießen? Dafür wirst du aber auch allen
Gefahren ausgesetzt sein, welche die Freiheit mit sich bringt. Wenn du
krank oder verletzt bist, wird dich kein Tierarzt pflegen. Wenn der Löwe
auftaucht, musst du um dein Leben laufen. Und wenn er dich erwischt,
wird er dich zerfleischen.
Hier bei uns im Zoo hingegen bist du sicher. Du bist eingesperrt, aber
sicher. Wir werden dir Raum zum Leben geben, du wirst immer Futter
haben, wir werden uns um deine Gesundheit kümmern, aber du kannst nur
bis dort hin gehen, wo ein Gitter das Ende deiner Welt markiert.
Liebes Gnu, wie willst du dich entscheiden: Freiheit oder Sicherheit?"

Diese Frage an ein Gnu gerichtet, mag erstmal höchst rethorisch klingen.
Und diese Frage wirkt vielleicht dazu verdammt, unbeantwortet in das
Gnu-Geläuf hineingedacht zu bleiben. Aber ich meinte es ernst mit deren
Beantwortung und versuchte mich in das Gnu hineinzuversetzen. Freiheit
oder Sicherheit? Plötzlich schoss mir folgender Gedanke ins Hirn: Wir
Menschen hier in der sogenannten modernen westlichen Gesellschaft stehen
eigentlich vor der selben Frage. Vielleicht sogar Tag für Tag. Jeden
Morgen können wir uns entscheiden, oder besser gesagt, wir könnten uns
entscheiden. Freiheit oder Sicherheit? Viele Menschen stehen morgens
auf, um den vorgegebenen Weg zur Arbeit zu gehen oder mit dem Auto auf
der vorgegebenen Autobahn ihm Stau zu stehen. Im Büro müssen wir tun,
was der Chef sagt, was im Meeting beschlossen wurde, oder was der Kunde
vorgibt. Uns fragen welchen Sinn unser Tun hat oder wie wertvoll das
Ergebnis unserer Arbeit für die Allgemeinheit ist, fragen wir uns
oftmals lieber nicht. Teilweise müssen wir dazu noch eine feste Zeit am
Arbeitsplatz sein, müssen sogar „stechen", um für den Arbeitgeber
nachvollziehbar zu machen, von wann bis wann wir unseren Dienst
geleistet haben.
Dies alles ist durchaus eine andere Ebene als bei einem mechanisch
eingesperrten Tier hinter Gittern, aber doch sollten all diese Parameter
angesichts der mutmaßlich höheren Ansprüche der artgerechten Haltung von
Menschen gegenüber Nicht-Menschen dazu ausreichen, als eine gewisse
Unfreiheit definiert werden zu können. Eine Unfreiheit, welche wiederum
von jedem Menschen individuell verschieden stark wahrgenommen wird.
Und wie auch das Gnu, haben wir Menschen einen Vorteil, der mit dieser
Unfreiheit daherkommt. Sicherheit. Wir bekommen jeden Monat ein sicheres
Einkommen auf unser Konto überwiesen, haben einen festen Wohnsitz, immer
verfügbares Futter in der Kantine und den Supermärkten, wir schließen
unser Auto ab, damit niemand darin übernachten kann und manche schließen
sogar ihre Haustür ab, damit niemand ins Haus kommen kann. Ein paar
Monate tun wir uns das unentwegt an, um dann wieder vermeintliche
Freiheit zu bekommen, auch Urlaub genannt. Dieser Urlaub steht dem
Arbeitnehmer zu, um nach einer Weile des Schuftens seine volle
Arbeitskraft durch Erholung wieder herzustellen, damit diese dem
Arbeitgeber nach dem Urlaub wieder zur Verfügung steht. Wer dann auch
noch im Urlaub in ein Ferienressort fährt und sich am ersten Tag das
All-Inclusive-Bändchen ans Handgelenk pinnen lässt, mit dem man zu den
vorgegebenen Futterzeiten an den Speisetrog darf, der lebt diese sichere
Unfreiheit in voller Perfektion. Verwegenere Individuen machen mit
Wohnwagen Urlaub und fahren einfach los, ohne genau zu wissen, wo sie
ihren Camper am Abend abstellen werden, aber doch ist das Start- und das
End-Datum des Urlaubs vorgegeben und die Stechuhr im Büro wartet
geduldig auf das Ende des pinken Textmarkerstreifens im Kalender des
Wohnwagenabenteurers. Montagmorgen wird der Dienst wieder angetreten und
es ist während dem Urlaub nicht einfach, nicht an diesen Zwang zu
denken.

Dagegen hätten wir die Wahl: Wir könnten unseren Job kündigen und raus
gehen in die große weite Welt. Andere Menschen mit anderen Sprachen und
Kulturen kennenlernen, frei reisen, spontan in den Tag hinein leben. Das
Leben und uns selbst einfach geschehen lassen und uns jeden Tag mit der
Situation anfreunden, wie sie sich ergibt. Doch dafür ist nicht immer
klar, wo das Geld herkommt, wir sind nicht auf der gewohnten Autobahn,
sondern auch mal auf abenteuerlich anmutenden Wegen voller Schlaglöcher
in einem alten Kleinbus unterwegs, dessen Fahrer vor Antritt der Reise
nochmal zu drei Räucherstäbchen gebetet hat, die er an den Kühlergrill
geklemmt hat, dass auf dieser Fahrt kein Unglück passieren möge.
Ein Buch schreiben, Musik machen, mehr Zeit mit der Familie verbringen,
Sport machen, sich ehrenamtlich für Bedürftige einsetzen, Reisen… es
gibt so viele Dinge, die man tun oder lassen kann. Man braucht nur die
Zeit und die Freiheit.
Wir haben uns nach einer Weile des Arbeitens und Schwetzinger Alltags
nun wieder für ein bisschen mehr Freiheit entschieden. Im September soll
es wieder los gehen, diesmal bleiben wir voraussichtlich in Europa und
haben die Balkan-Region als Reiseroute im Blick.